Das Schneeweiße Hühnchen von Gurvitz

 

Ernst Moritz Arndt hat das Märchen über das schneeweiße Hühnchen von Gurvitz in seiner Jugend Zeit, als er ganz in der nähe in Grabitz gelebt hat, geschrieben.

Das schneeweiße Hühnchen

In Gurvitz, einer Ortschaft in der Nähe von Rambin, lebt ein armer Weber mit seiner Familie.
Sein jüngstes Kind war ein achtjähriges Mädchen mit Namen Christine, ein hübsches und aufgewecktes Kind.
Es lernte leicht lesen und schöne Lieder singen und war der Liebling aller.
Im Frühling und im Sommer spielte Christine am liebsten allein im Garten,
denn sie liebte die Blumen und lauschte den Vögeln, die in den Büschen und Bäumen sangen.
Auch mit ihnen spielte das Mädchen, ja, es unterhielt sich mit ihnen wie mit Menschenkindern.
Wenn die Sonne untergegangen war, kam Christine heiter und fröhlich ins Haus zum Abendbrot.
Nun geschah es, dass das Kind einmal, als es abends aus dem Garten in die Stube kam,
etwas in seinem Schürzchen trug. Niemand konnte sehen, was es war,
Christine hielt die Schürze fest zu und ließ ihre Schwester und Brüder raten.
Sie konnten es sich nicht denken, selbst die Mutter wusste es nicht.

Als niemand mehr raten wollte, öffnete Christine ihre Schürze und sagte:
„Da – seht!“ Heraus fiel ein schneeweißes Küken mit einem bunten Büschel auf dem Kopf.
Die Mutter wunderte sich und fragte Christine, woher sie es habe. „Ich weiß nicht, wo es hergekommen ist“,
antwortete das Mädchen. „Im Garten kam es zu mir, es hüpfte auf meinen Schoß
und hat den ganzen Nachmittag mit mir gespielt. Als ich weggehen sollte, ist es mir nachgelaufen.
Da habe ich es in meine Schürze genommen und mitgebracht.
Ich konnte es doch nicht draußen lassen es hätte in der Nacht gefroren, oder ein Iltis hätte es gefressen.
"Darum, du liebes schneeweißes Küklein, habe ich dich mitgenommen!“
Mit diesen Worten nahm sie es wieder auf, herzte und küsste es und legte es an ihr Herz.
„Sei nur nicht bange! Du sollst es gut haben und bei mir schlafen.“
Die Mutter glaubte nicht recht, was Christine da erzählte, und meinte,
das Küken müsse von einem Nachbarn zugelaufen sein.
Doch das Kind blieb dabei und spielte und freute sich über das Tierchen.
Als Christine zu Bett ging, legte sie es auf ihre Brust. Das Küken breitete seine Flügel aus,
als wolle es sie damit zudecken, und schlief die ganze Nacht bei ihr.
Am anderen Morgen schickte die Mutter die größeren Kinder zu den Nachbarn
und zu allen Leuten im Dorf und ließ fragen,
ob jemand ein schneeweißes Küken mit einem bunten Büschel auf dem Kopf verloren habe.
Alle ließen ihr sagen, schneeweiße Hühner hätten sie gar nicht,
auch sei keinem ein Küken verloren gegangen.
Bei dieser Botschaft hüpfte und jubelte Christine vor Freude:
Nun konnte sie ihr liebes Küken behalten! Auch die Mutter war froh,
denn sie hatte befürchtet ihr Kind hätte das Küken irgendwo mitgenommen.
Zwischen dem Mädchen und dem weißen Küken kam es bald zu einer solchen Freundschaft,
dass es fast zu viel war. Christine wollte am liebsten überhaupt nicht mehr ohne das Küken sein.
Schneeweißchen, so nannte sie es nun, hatte eine unglückliche Zeit, wenn Christine in die Schule musste.
Es lief dann unruhig hin und her, piepte und suchte und hätte sich oft beinahe die Seele ausgepiepst.
Sobald es dann Christine kommen sah, drehte es sich auf seinen goldgelben Beinchen herum und flatterte ihr glücklich entgegen.
Am liebsten waren die beiden zusammen im Garten, wo Christine saß und las,
zuweilen auch strickte, die Blumen goss und Unkraut zupfte.
Unter einem alten Birnenbaum lag ein breiter Stein. Darauf saß das Mädchen nun immer,
weil sich Schneeweißchen am liebsten an dem Stein hinlegte,
auf dem Boden scharrte und seine Flügel und Federn mit Erde bewarf.
Die Mutter schallt Christine oft, denn sie saß gar nicht mehr auf ihrer grünen Bank,
die ihr Bruder gerade für sie angefertigt hatte. Die Antwort war,
Schneeweißchen möge nun einmal so gern an dem Stein liegen,
und wo das Tierchen sei, da müsse sie auch sein.

So lebten die beiden miteinander den ganzen Frühling und Sommer hindurch in enger Freundschaft.
Das Küken brauchte nichts weiter als ein paar Brotkrümchen, die Christine ihm gern abgab.
Im Sommer gab es draußen im Garten Futter für das Küken in Hülle und Fülle.
Als aber der Herbst einzog und die Blätter von den Bäumen fielen
und gar der Winter den Garten mit Schnee zudeckte,
mussten die beiden Unzertrennlichen in die Stube ziehen und kamen in große Not.

An einem Tage nahm sich die Mutter das Mädchen vor und sagte:
„Du bist immer ein gehorsames Mädchen und gutes Kind gewesen.
Es tut mir darum leid, dass du dich von Schneeweißchen trennen musst.
Aber wir können es nicht den ganzen Winter über behalten.
Es ist jetzt größer und muss Gerste und Brot bekommen,
und das haben wir nicht übrig. Nun weine nicht, zieh dein Sonntagsröckchen an,
nimm das Hühnchen unter den Arm und bring es zu deiner Frau Patin in Rambin.
Sie wird es pflegen, und bei ihr wird es bessere Tage haben als in unserem Häuschen.“
Als Christine das hörte, begann sie so bitterlich zu weinen, dass es der Mutter von Herzen leid tat.
„Nein, Mutter“, rief das Kind unter Tränen, „das kann ich nicht tun.
Wenn Schneeweißchen fort muss, mag ich auch nicht länger bleiben.
Warum können wir das Hühnchen nicht behalten?
Bald wird es groß sein und Eier legen!“
Der Mutter wurde das Herz schwer, und schließlich lenkte sie ein.
„Also gut, behalte deinen Liebling.
Vielleicht bleiben auch bei unserer Armut ein paar Krümchen für es übrig.“
So lebte das Tier in der Stube und auf dem Flur und war glücklich,
wenn Christine bei ihm war, und auch des Nachts schlief es immer bei ihr.
Oft lief es in den Garten zum Stein, wo es sich im Sommer sein Bett zurecht gemacht hatte.
Als nach Weihnachten die Tage länger wurden,
legte Schneeweißchen das erste Ei, und Christine brachte es mit Freude ihrer Mutter.
Nun legte das Tier jeden Tag ein Ei, manchmal auch zwei, und das sieben Jahre lang, solange es lebte.
Es war ein rechter Segen für die Familie.

Christine war inzwischen größer geworden.
Sie musste im Wald die Kühe hüten und auf dem Feld arbeiten.
Das Hühnchen war immer bei ihr. Es ging oder flog mit,
aber gewöhnlich trug es Christine auf dem Arm – wie ein Jäger seinen Falken.
Natürlich wunderten sich die Leute im Dorf über die beiden und ihre sonderbare Freundschaft.
Die alten Weiber steckten die Köpfe zusammen und flüsterten:
„Ja, ja, wenn es nicht ein Huhn wäre und genau wie andere Hühner Eier legte,
die ebenso aussehen und schmecken, könnte man auf wunderliche Gedanken kommen...“
Obwohl Christine und Schneeweißchen nicht mehr so oft im Garten sein konnten
wie in den ersten Jahren, lief das Hühnchen häufig zum breiten Stein unter dem Birnbaum und scharrte.
Auch Christine blieb die Stelle wegen der Erinnerung an den Sommer lieb,
da Schneeweißchen dort zu ihr gekommen war.

Als das Hühnchen sieben Jahre alt und Christine mit ihren fünfzehn Jahren
schon ein großes hübsches Mädchen war, bekam Schneeweißchen eines Tages trübe Augen.
Es ließ die Flügel hängen und mochte nur wenig fressen.
Christine war tief betrübt und streichelte und pflegte es , so gut sie konnte.
Doch vergeblich – eines Morgens lag Schneeweißchen tot da.
Christine fand es an dem Stein unter dem Birnbaum, wo es sich immer gern aufgehalten hatte.
Große Trauer war im Häuschen, denn nun, da das Hühnchen tot war, lobten sie es alle.
Christine nahm es traurig auf den Arm und sprach:
„Oh du mein liebes Schneeweißchen, nun sollst du schön begraben werden,
und dort schlafen, wo du am liebsten gewesen bist und dir im Sommer dein kühles Bett gescharrt hast.
Die schönsten Blumen will ich auf dein Grab pflanzen.“
Christine ging mit der Mutter zu dem breiten Stein, wo Schneeweißchen ruhen sollte.
Beim Graben stieß Christine bald auf etwas Hartes und fragte:
„Mutter, sieh mal, was ist denn das?“ Auch die Mutter traf gerade mit dem Spaten darauf. Sie räumten die Erde hinweg und fanden einen Kasten.
Nun arbeiteten sie von allen Seiten, schließlich konnten sie ihn herausheben.
Er war aus Eichenholz und recht schwer. Die Mutter rief:
„Du lieber Gott, wenn das ein Schatz wäre, dann hätte ihn dein Schneeweißchen es für dich bestimmt!
Wenn es deshalb hier so viel gekratzt und sich eingebuddelt haben sollte...“
„Ja, Mutter“, sagte Christine eifrig, „hier ist es ja damals zu mir gekommen!
“Nun setzten sie den schweren Kasten beiseite und machten das Grab fertig.
Christine streute Blätter hinein, legte Schneeweißchen darauf und deckte es mit Blumen zu. Darüber kam ein kleiner Erdhügel, den sie auch mit Blumen bepflanzte.
Was aber mochte in dem Kasten sein?

Christines Vater musste sich lange abmühen, um ihn aufzubrechen.
Schließlich gelang es, und ein kleiner Kasten aus Blech kam zum Vorschein,
der dem Vater noch mehr zu schaffen machte.
Als er ihn öffnen konnte, war er voll der schönsten blanken holländischen Dukaten.
Welche Freude war nun im Haus! Der Weber und seine Familie waren überglücklich,
dass ihre Armut ein Ende hatte.
Die Mutter sprach: „Nun, Vater, habe ich nicht recht gehabt?
Du hast mich immer ausgelacht, wenn ich sagte, es müsse mit Christine und Schneeweißchen etwas Besonderes auf sich haben, so eine Heimlichkeit, die wir nicht verstehen.
Siehst du, jetzt wird diese Heimlichkeit von der Sonne beschienen!“
Als sie sich genug gewundert und gefreut hatten, sagte der Vater zu Christine:
„Eigentlich ist das alles dein,
denn Schneeweißchen ist als unbekannter Gast zu dir gekommen und hat sieben Jahre bei dir gewohnt, damit es dir den Schatz weise und du wolltest es auch an dieser Stelle begraben.
Nun bist du ein reiches Mädchen! “Doch Christine entschied: „Was sprecht ihr da Vater? Der Schatz soll uns allen gehören, und wir wollen zusammen darüber glücklich sein.“


Aus: Burkhardt, Albert: Sagen und Märchen der Insel Rügen, München 1994